Anfang November 2010 haben wir den zweiten Weltkongress für Stimmenhörer in Nottingham, in England besucht. Wir waren eine Gruppe von Fachleuten aus dem psychosozialen Bereich zusammen mit Stimmenhörern aus Griechenland. In Nottingham trafen wir Stimmenhörer und Leute, die ungewöhnliche Ideen haben, Verwandte von ihnen und Fachleute aus dem psychosozialen Bereich, die sich versammelt hatten, um sich über ihre Erfahrungen und Ideen auszutauschen, um sich gegenseitig zu unterstützen und um Aktionen zur Sensibilisierung der Bevölkerung zu organisieren.
Die bewegenden persönlichen Geschichten wechselten mit Forschungsergebnissen und statistischen Daten ab. Es gab Begeisterung und Inspiration. Vier hundert Leute aus allen Kontinenten nahmen teil (unter anderem aus Holland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Deutschland, Frankreich, Italien, Griechenland, Kenia, Indien, Japan, Amerika und Australien), um eine Bewegung zu unterstützen, die eine Alternative zur traditionellen Psychiatrie anbietet.
Die meisten Referenten waren Stimmenhörer, die über ihre persönlichen Traumata, ihre Hospitalisierungserfahrungen, die pessimistischen Prognosen, die Verzweiflung und die Isolation, als auch über den Weg der “Heilung“, die Bewältigung der Stimmen und der ungewöhnlichen Ideen und den Aufbau eines normalen Lebens mit wenigen oder keinen Psychopharmaka berichteten. Alle hatten viele Jahre psychiatrischer Erfahrung hinter sich und hatten gekämpft, um ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten, um angemessene Alternativen zu finden und ein zufriedenstellendes und kreatives Leben zu gestalten.
Die Fachleute, hauptsächlich Psychiater, lehnten in ihren Vorträgen die Schizophrenie-Diagnose als ein willkürliches Konzept ab und widersetzten sich der langjährigen Einnahme von Psychopharmaka. Sie unterstützten die Ansicht, dass Stimmenhören und ungewöhnliche Ideen normale menschliche Erfahrungen sind und verglichen sie mit der Linkshändigkeit. Darüber hinaus referierten sie über Untersuchungen, die zeigten, dass die Akzeptanz der Stimmen und der ungewöhnlichen Ideen in Kombination mit einer Gesprächstherapie die besten Ergebnisse für die Lebensqualität der Stimmenhörer habe. Sie wiesen auf die gravierenden Nebenwirkungen der psychiatrischen Medikamente hin (Diabetes, Spätdyskinesie, signifikante Abnahme der Lebenserwartung usw.). Sie argumentierten, dass man Medikamente in der geringst möglichen Dosis, für die kürzest mögliche Zeit und auf eine Weise, die für die betreffende Person sinnvoll sei, verschreiben sollte, wenn diese Verschreibung unvermeidlich ist.
Ich möchte gerne manche wichtige Informationen und Ansichten, die auf diesem Kongress vertreten wurden, mit Ihnen teilen: Menschen, die Stimmen hören und/oder ungewöhnliche Ideen haben, hatten sehr wahrscheinlich extreme traumatische Erfahrungen. Die herrschenden Gefühle sind Angst, Scham und Schuld. Die Betreffenden werden von den Stimmen und/oder den ungewöhnlichen Ideen kontrolliert, ohne diese erklären zu können. Sie haben nicht das Gefühl, dass sie die Kontrolle ihres Lebens haben und neigen dazu, sich zu isolieren. Wenn sie Hilfe aufsuchen, bekommen sie von den Psychiatern meistens eine Diagnose und Psychopharmaka. Die psychiatrische Sprache ist vereinfachend und nicht hilfreich. Die Diagnosen stützen sich nicht auf objektiv definierte Kriterien und es gibt keine Möglichkeit, sie zu verifizieren. Darüber hinaus gibt es keine objektiven empirischen Daten, dass die Behandlung mit Psychopharmaka positive Folgen hat.
Die meisten Betroffenen akzeptieren die Diagnosen, ohne sie in Frage zu stellen. Sie haben das Gefühl, dass sie keiner verstehe und dass etwas Außergewöhnliches mit ihnen los sei, und isolieren sich. Es wurde beobachtet, dass diejenigen, die ihre Diagnose nicht akzeptierten, eine bessere Entwicklung hatten. Die Nebenwirkungen der Medikamente beeinflussen enorm die Lebensqualität der Betroffenen. Trotzdem akzeptieren die meisten die Psychopharmaka für ihr ganzes Leben, weil sie überzeugt sind, dass sie eine chronische Krankheit, wie Diabetes, haben. Sie erfahren nie etwas über die Existenz von alternativen Therapien und Möglichkeiten.
Die Pharmaindustrie übt einen großen Einfluss sowohl auf die Meinung der Bevölkerung, als auch auf die Ansichten der Mediziner durch Werbung und durch die Finanzierung von medizinischen Kongressen aus. Der durchschnittliche Amerikaner sieht zehn pharmazeutische Werbungen im Fernsehen täglich. Es wurde aufgedeckt, dass Psychiater, die auf internationalen Kongressen die Einnahme von Psychopharmaka befürworten, von der Pharmaindustrie jeweils 150.000 € jährlich bekommen. Neuroleptika werden meistens ohne therapeutischen Plan verschrieben und es werden keine Versuche unternommen, ihre Einnahme zu reduzieren oder zu unterbrechen. Darüber hinaus werden oft zwei oder drei Neuroleptika gleichzeitig verschrieben, obwohl keine empirischen Befunde bestehen, die eine solche Behandlung unterstützen.
Die abrupte Unterbrechung von psychiatrischen Medikamenten führt zu schwerwiegenden Störungen, die ähnlich zur ursprünglichen Krise, die zur Medikamenteneinnahme veranlasste, sind. Trotzdem werden diese Störungen als Indizien einer Krankheit und nicht als Folge der Medikamentenunterbrechung missinterpretiert. In Dänemark stirbt an jedem zweiten Tag ein Patient in der Psychiatrie und bis heute wird den Ursachen dieser Tode nicht nachgegangen. Neuerdings, im Oktober 2010, wurden in Dänemark dreizehn Millionen dänische Kronen genehmigt, damit die Todesursachen in psychiatrischen Institutionen untersucht werden.
Psychiatrische Patienten werden als gefährlich betrachtet, sie werden nicht als menschliche Wesen, als Mitmenschen angesehen. Diejenigen, die Stimmen hören und/oder ungewöhnliche Ideen haben, haben das Bedürfnis zu reden und gehört zu werden, sie brauchen jemanden, der in ihnen glaubt, sie brauchen es, auf etwas Neues zu hoffen und alternative Möglichkeiten zu entdecken. Therapie besteht nicht unbedingt darin, die Stimmen und/oder ungewöhnliche Ideen loszuwerden, sondern vielmehr ihre Bedeutung zu verstehen, sie in Beziehung zu den individuellen Erfahrungen zu setzen, so dass die Stimmen und/oder ungewöhnliche Ideen harmlos oder hilfreich werden (als Boten von Bedürfnissen).
Stimmen und/oder ungewöhnliche Ideen sind eine Überlebensstrategie: sie können auf Probleme in der Vergangenheit oder Gegenwart hinweisen, eine metaphorische Bedeutung haben, unerträgliche oder gespaltene Gefühle vertreten, wichtige Botschaften verbergen. Die Verweigerung der eigenen traumatischen Erfahrung (z.B. Misshandlung in der Kindheit) ist nicht hilfreich. Dagegen wirkt das Reden über solche Erfahrungen therapeutisch. Im Prozess zu einem normalen Leben (ohne Krankenhausaufenthalte und Psychopharmaka) ist für die Betreffenden Folgendes wichtig: sich sicher und akzeptiert zu fühlen, informiert zu werden, mit anderen zusammenzuarbeiten, über die gewünschten Veränderungen im eigenen Leben zu reflektieren, Verantwortung für diese Veränderungen zu übernehmen, jeden kleinen Schritt wertzuschätzen und sich darüber freuen, Hoffnung zu haben und natürlich zu akzeptieren, dass alles nicht immer rosig sein wird.
“Heilung” ist ein aktiver Prozess. Die Betroffenen sind selbst Experten für ihre eigenen Erfahrungen, sie sind diejenigen, die langsam die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen. Nahestehende Menschen können sie dadurch unterstützen, dass sie die Hoffnung aufrechterhalten, wenn der Betreffende verzweifelt ist. In Selbsthilfegruppen kommen Menschen, die Stimmen hören und/oder ungewöhnliche Ideen haben, aus ihrer Isolation heraus und tauschen sich mit Menschen, die ähnliche Anliegen haben, über ihre Erfahrungen und Bewältigungsstrategien aus. Diese Gruppen haben in vielen Fällen eine therapeutische Wirkung.
Intervoice ist eine Bewegung, ein Dachverband für alle Selbsthilfegruppen auf der Welt. Die Vision dieser Bewegung ist, dass in jedem Land ein Netzwerk von Menschen, die Stimmen hören und/oder ungewöhnliche Ideen haben, entsteht. Sie setzen sich zum Ziel, Eltern und junge Menschen über alternative Möglichkeiten zu informieren, wenn Kinder oder Jugendliche Stimmen hören und/oder ungewöhnliche Ideen haben. Vielleicht wird man dadurch chronische Medikamenteneinnahme und Krankenhausaufenthalte vermeiden können. Darüber hinaus setzen sie sich dafür ein, die Bevölkerung über Misshandlung (nicht nur sexuelle) in der Kindheit zu informieren und zu sensibilisieren, denn Kindermisshandlung wird mit den Stimmen und den ungewöhnlichen Ideen in Verbindung gebracht.
Der Kongress war perfekt organisiert von Peter Bullimore und Jacqui Dillon. Die Worte berührten den Geist und das Herz und sie inspirierten… Wir verließen den Kongress mit vielen Ideen und Begeisterung für die Selbsthilfegruppen, die in Thessaloniki und Athen laufen. Gleichzeitig hatten wir auch eine Mission: das Netzwerk in Griechenland weiterzuentwickeln und einen internationalen Kongress in unserem Land in den nächsten Jahren zu organisieren!
Im April 2011 besuchten uns Dr Marius Romme, Psychiatrieprofessor aus Holland, und seine Partnerin und Mitarbeiterin Sandra Escher. Sie hielten Vorträge und Seminare über ihre Arbeit sowohl in Thessaloniki als auch in Athen. Dr Romme hatte die erste Selbsthilfegruppe für Stimmenhörer in Holland initiiert!
Weitere Informationen: www.intervoiceonline.org
Telefonnummer für die Selbsthilfegruppe in Thessaloniki 6938 097850
Telefonnummer für die Selbsthilfegruppen in Athen: 6944 302577 / 6956 879974
Virginia Ioannidou